JULIA MINDERMANN | Potenzialentfaltung & Visionsentwicklung

Solidarität unter Frauen wird die Welt verändern

(Vortrag vom 26.9.2020 in gekürzter Fassung)

Mir ist vor ein paar Monaten etwas Merkwürdiges passiert:
Ich war das erste Mal bei einer Bekannten zum Kaffee eingeladen. Und schon als ich mit meinem Auto durch das Neubaugebiet gefahren bin in dem sie wohnt, ist mir aufgefallen, wie perfekt gestaltet alles ist.
Als ich ihr Haus betrete, ist es genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte – alles blitzeblank, wirklich schön und geschmackvoll eingerichtet: Wunderschöne Holzfußböden, schöne Möbel, frische Blumen auf dem Tisch. Ich hab nur gedacht: „Wow ist das hier schön.“
Und dann komme ich in ihre Küche und sehe da dieses Schild hängen:

“GOOD MOMS HAVE STICKY FLOORS, MESSY KITCHENS, LAUNDRY PILES AND HAPPY KIDS”

Ich denke nur: „Wie bitte? Wo hast du denn bitte klebrige Böden oder eine unordentliche Küche? Wie passt denn das zusammen?
Deine Küche ist perfekt, so wie alles an dir und deinem Haus perfekt ist. Hier ist nicht ein einziger Krümel auf dem Fußboden. Du WEIßT ganz genau, wie wunderschön dein Haus ist.
Und dann hängt in deiner perfekten hochglanz Designerküche Küche dieses Schild. Was willst du denn damit sagen? Ich verstehe es nicht.“

Das Einzige, was ich in diesem Moment verstanden oder gespürt habe, war, dass irgendetwas daran, dass dieser Spruch in ihrer perfekten Küche hing, etwas mit mir gemacht hat.
Irgendetwas, warum ich mich plötzlich klein und mies gefühlt hab.

Das ist komisch. Denn eigentlich bin ich keine Frau, die sich vergleicht und schnell neidisch ist.
Und doch war ich es in diesem Moment.

Was war passiert? Ich kenne dieses Gefühl und dieses Unwohlsein auch aus anderen Situationen in meinem Leben. Ich habe lange Zeit nicht verstanden, warum ich mich manchmal plötzlich unwohl und von einer anderen Frau irgendwie angegriffen oder herabgesetzt fühle.
Ich habe mir vorgenommen im Rahmen dieses Vortrags herauszufinden, was diese Gefühle in mir auslöst. Für mich ist es ein Phänomen, das unglaublich schwer zu begreifen ist, weil es einerseits so komplex und vielschichtig ist und andererseits aber meistens ganz unterschwellig und „harmlos“ daher kommt.

Ich habe dieses Phänomen Pseudo-Solidarität unter Frauen genannt.
Ich möchte hier zusammen mit euch darüber nachdenken, was es mit diesem Phänomen der Pseudo-Solidarität unter Frauen auf sich hat.
Vor allem aber will ich gemeinsam mit euch schauen, was wahre Solidarität unter Frauen bedeutet.

Der Krabbenkorb in dem wir Frauen uns gegenseitig festhalten

Krabben, die man gemeinsam in einem Korb hält müssen nicht eingesperrt werden. Der Korb braucht keinen Deckel, weil sich die Krabben gegenseitig festhalten und sich daran hindern herauszukrabbeln.
Wenn eine Krabbe doch mal der Umklammerung der anderen entkommt und am Rand des Korbes hochklettert, wird sie sofort nach unten zurückgezogen.

Keine Krabbe hat auch nur den Hauch einer Chance zu entkommen.

Wenn wir diesen Krabbenkorb als Bild für Pseudo-Solidarisches Verhalten nehmen, bedeutet es, dass Ausbrechen aus der Gemeinschaft verhindert und sanktioniert wird.
Solange wir aber wie die Krabben alle brav im Korb bleiben, sind wir sicher in der Gemeinschaft.

Warum wir Solidarität mit Konformität und Individualität mit Egoismus verwechseln und was dieses fundamentale Missverständnis mit uns macht

Ist es wirklich heute immer noch so, dass wir uns in einer Zeit, in der wir seit über 50 Jahren als Feministinnen um Gleichberechtigung kämpfen verhalten wie die Krabben im Korb?

  • Halten wir uns gegenseitig klein? 
  • Lassen wir uns nicht hochkommen?
  • Wird Aussteigen aus der Gemeinschaft und sich anders verhalten oder anders sein wirklich immer noch sanktioniert?

Wenn es so wäre, dann hieße das:
Solange wir uns anpassen an allgemeingültige Maßstäbe, sind wir sicher in unserer Gemeinschaft.
Im Korb wird zusammengehalten.
Hier herrscht vermeintliche Solidarität, wohl viel eher Konformität.
Solange wir im selben Dilemma stecken und uns gegenseitig in unserem Angepasstsein bestätigen und bekräftigen, haben wir nichts zu befürchten – außer dem Verlust unserer Einzigartigkeit und Selbstbestimmtheit.

Was also gefordert ist, ist weniger Solidarität als viel mehr Konformität.

Aber warum passen wir uns überhaupt an?
Wir tun es aus unserem Wunsch nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Verbundenheit.
Wir verhalten uns konform, um nicht bestraft oder ausgestoßen zu werden.

Und was ist mit unserer Sehnsucht danach, unsere Einzigartigkeit und Individualität selbstbestimmt zu leben?
Wir unterdrücken sie, weil es nach diesem Verständnis egoistisch und selbstgerecht wäre, ihr zu folgen und eine Gefahr für das Gleichgewicht in der Gemeinschaft darstellen würde.

Konformität und Individualität gleichzeitig zu leben ist schlicht unmöglich.

Das heißt also: wir verwechseln Konformität mit Solidarität und Individualität mit Egoismus.
Und sind so für immer gefangen im Krabbenkorb.

Wir machen uns selbst und gegenseitig das Leben schwer, weil wir uns – um nur ja nicht egoistisch oder unsolidarisch zu sein – anpassen an geltende Maßstäbe und Normen.

  • Doch wessen Normen und Maßstäbe haben wir da eigentlich übernommen?
  • Welche Maßstäbe gelten in unserem Krabbenkorb?
  • Und wie kommen wir überhaupt dazu, sie unhinterfragt zu übernehmen, manchmal sogar bis auf’s Blut zu verteidigen?

Es sind klassische Rollenbilder, an die wir uns heute immer noch unbewusst anpassen und die uns klein halten.

  • Schon als kleine Mädchen haben wir gelernt, lieb und brav zu sein, auch wenn uns nach toben und herumschreien gewesen wäre. 
  • Immer Rücksicht auf andere zu nehmen, auch wenn es den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entgegensteht.
  • Immer alles zu teilen, auch wenn wir mal was einfach nur für uns alleine haben wollten, weil es uns gehört.
  • Wir haben gelernt immer zusammenzuhalten, auch wenn wir lieber mal einfach nur für uns sein wollten.
  • Wir haben gelernt, dass wir am meisten Beachtung und Wertschätzung bekommen, wenn wir ordentlich sind und hübsch – was überhaupt die erste Pflicht eines jeden weiblichen Wesens zu sein scheint.
  • Wir haben von klein auf gelernt, uns an klassischen weiblichen Tugenden zu orientieren.

Wir lernen es dadurch, dass wir unsere Vorbilder nachahmen.
Wir spielen Vater, Mutter, Kind und jetzt ratet mal, wer zur Arbeit geht und wer sich um die Kinder kümmert 😉
Und wir werden dazu erzogen, weil es sich immer noch so gehört, oder weil unsere Mütter, selbst wenn sie aufgeklärt und freigeistig sind uns vor der Gehässigkeit anderer bewahren wollen, wenn wir nicht dem klassischen Klischee eines Mädchens entsprechen.
Lisa, die Tochter einer Bekannten ist dieses Jahr in die erste Klasse gekommen.
Lisa hat sich für ihren ersten Schultag eine wilde Kerle Schultüte ausgesucht, auf die sie total stolz ist. Die Mutter von Lisa war nicht begeistert, dass Lisa sich ausgerechnet eine Schultüte für Buben ausgesucht hat. Nicht, weil sie selbst findet, dass Mädchen keine Buben Schultüten haben dürfen. Sie hatte einfach Angst davor, dass Lisa gleich am ersten Tag von allen anderen ausgelacht und sofort zur Aussenseiterin wird.

Spätestens in der Schule ist es vorbei mit dem Anders-Sein

Im Kindergarten mag es noch manchmal vorkommen, dass ein Mädchen ungestraft mit einem Bob der Baumeister T-Shirt im Stuhlkreis sitzt oder mit den Jungs Fußball spielt.

Aber ab der 1. Klasse gibt es kein Pardon mehr:

  • Da haben alle die gleichen Kleider an. Im Moment sind das laut meiner Schwester – die zwei Mädchen hat – Kleider mit Einhörnern oder Flamingos drauf.
  • Da haben alle Schultüten und Schultaschen für Mädchen – außer die arme Lisa.
  • Die Tochter einer anderen Freundin rasiert sich ihre Beine, weil alle das so machen. In der dritten Klasse. Mit 9 Jahren!

Ehrlich hinschauen

Ich weiß, dass alles, was ich hier schreibe dünnes Eis ist. Ich weiß, dass es eine Provokation ist, weil ich damit ein Tabu breche. Ich weiß, dass ich mich in den Augen so mancher Feministin eben genau dadurch unsolidarisch verhalte, dass ich überhaupt ausspreche, dass wir Frauen uns unsolidarisch verhalten.
ICH bin Feministin und ich erlaube mir, genau in diese Wunde meinen Finger zu legen.
Weil Political Correctness hier nicht weiterhilft.
Weil wir hinschauen dürfen, wo’s weh tut.
Es ist nicht schön, dass wir im 21. Jahrhundert, in unseren aufgeklärten Zeiten als freie, gleichberechtigte Frauen darüber sprechen müssen.
Aber aus meiner Sicht ist es unerlässlich.
Wir müssen so lange darüber sprechen, bis wir Frauen uns wahrhaftig unterstützen, in echter Verbundenheit und Solidarität.
Wir müssen so oft darüber sprechen, bis Solidarität nicht mehr – leider immer noch allzu häufig – nur ein Lippenbekenntnis ist.
Wir versichern uns gegenseitig unserer Solidarität, wir halten zusammen und sind beste Freundinnen.
So lange, bis die eine etwas tut, was dem eigenen engen Lebenskonzept nicht entspricht. Zum Beispiel freiwillig auf Kinder zu verzichten.
Wir fühlen uns dann in unserem Lebensentwurf in Frage gestellt und das zahlen wir der anderen mit barer Münze heim – so nicht meine Liebe.
Entweder wir versuchen der anderen ihr Lebensmodell aus- oder schlecht zu reden, oder wir lästern unter dem Deckmäntelchen der Betroffenheit und Anteilnahme mit unseren Freundinnen (natürlich dann in Abwesenheit der freiwillig kinderlosen Frau).
Ich denke, wir alle kennen solche Gespräche aus unserer eigenen Erfahrung.

Doch wie kommen wir eigentlich dazu, andere permanent zu bewerten und zu kommentieren?
Was gibt uns das Recht, unsere Meinung als das Maß der Dinge hinzustellen?
Was, wenn wir zum Beispiel lieber Hamster züchten als Kinder kriegen, oder uns lieber die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, anstatt uns um unseren Haushalt zu kümmern?

Wie wäre es denn, wenn wir andere Frauen einfach mal zufrieden ließen mit unseren permanenten Bewertungen und Kommentaren?
Wie wäre es, wenn wir statt uns gegenseitig zu sabotieren und uns das Wasser abzugraben uns gegenseitig unterstützen und voranbringen?
Was wäre, wenn wir heute entscheiden würden aus einer Haltung wahrer Solidarität heraus zu handeln – in jedem Moment?

Eine Utopie? Ein Krabbenkorb der uns Sicherheit und Verbundenheit bietet und uns gleichzeitig unser So-Sein leben und zum Ausdruck bringen lässt

Ich wünsche mir einen Krabbenkorb, der uns Sicherheit, Zugehörigkeit und Verbundenheit bietet und der uns gleichzeitig den Raum lässt für Einzigartigkeit und Selbstbestimmtheit.
Ich wünsche mir einen Korb voller Krabben, die Spaß haben und glücklich sind.
Die sich gegenseitig hinaufschieben.
Die sich Räuberinnenleitern machen und die sobald eine oben am Rand angekommen ist, der anderen die Hand reicht.
Wo eine Krabbe der anderen dabei hilft ihre Luftballons aufzupusten, damit sie davonfliegen kann.

Die unbedingte Solidarität unter Frauen als neues Normal definieren

Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Antje Schrupp sagt in ihrem lesenswerten Artikel „Eine neue symbolische Ordnung – weibliche Autorität und die Freiheit der Frauen“ (http://www.antjeschrupp.de/weibliche-autoritaet):

„Vielleicht meint ihr, das hört sich jetzt etwas pathetisch an, aber es geht wirklich um etwas ganz Existenzielles. Es geht darum, ob ich als Frau, so wie ich bin, mit meinem Begehren einen Platz in der Welt finde. Mir das zu ermöglichen, ist fast dasselbe, wie Leben retten.“

Ich finde sie hat Recht.
Und um mit unserem So-Sein unseren Platz in der Welt finden zu können, ist unsere unbedingte Solidarität untereinander essentiell.

Was Solidarität unter Frauen für mich bedeutet

Wahrhaftige Solidarität unter Frauen ist für mich die bedingungslose Bereitschaft in Beziehung und Verbundenheit zu bleiben, auch wenn eine Frau anders ist als ich.
Sie bedeutet, Vielfältigkeit und Einzigartigkeit auszuhalten, zuzulassen und vor allem anzuerkennen.
Sie bedeutet aber auch und vor allem, ganz gezielt und aktiv andere Frauen zu unterstützen und voranzubringen.

Das heißt für mich konkret:

  • Auch, wenn wir nicht einer Meinung sind, sind wir verbunden und respektieren uns.
  • Auch, wenn die andere etwas tut, dass ich nicht gut finde, lästere ich nicht über sie.
  • Ich lästere generell nicht über andere Frauen, sondern bin ihnen eine Fürsprecherin, 
  • Ich freue mich für jede Frau, die aus ihrer ureigenen Kraft und Kreativität heraus ihr Leben lebt.
  • Ich gönne jeder Frau von ganzem Herzen alles Glück der Welt, auch, wenn ich es vielleicht anders machen würde oder es mir selbst gerade nicht gut geht.
  • Vergleiche, Konkurrenz und Rivalität erübrigen sich von selbst, wenn wir Einzigartigkeit, Vielfalt und Selbstbestimmtheit als neues Normal definieren.
  • Erzählen wir Mädchen nie mehr, dass sie lieb und brav und angepasst zu sein haben.
  • Zeigen wir ihnen doch lieber, welche wunderbaren Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben in ihrer Individualität stecken. Ermutigen wir sie dazu, ihr Leben zu einem einzigartigen Meisterinnenstück zu machen.

Was wir tun können, um Solidarität wahrhaftig zu leben?

Manches können wir sofort und ganz einfach TUN, z.B. nicht lästern.
Doch wie können wir lernen von ganzem Herzen zu gönnen oder uns nicht mehr zu vergleichen und neidisch zu sein?
Erst einmal geht es darum ein Bewusstsein zu entwickeln. Achtsam zu sein und uns selbst dabei zu beobachten, wie wir fühlen, denken, sprechen und handeln.
Wenn wir uns unserer Denkmuster und Prägungen bewusst werden, können wir entschieden aussteigen: Halt STOP, das will ich nicht denken, sagen oder tun.

Wahre Solidarität unter Frauen ist zuallererst eine Entscheidung.

Und wahre Solidarität ist nicht nur in einzelnen Augenblicken gefragt, sondern immerzu.
Sie ist eine grundlegende Haltung, nach der wir unser Handeln in jedem Moment ausrichten. Jeden Tag mehr, jeden Tag besser.
Wenn wir das wirklich wollen, liegt es in unserer Verantwortung, dass es gelingt. Wir müssen auf nichts warten. Wir brauchen keine Erlaubnis. Notwendig ist nur ein JA – JA das ist wichtig. JA das ist es, was ich will.

„Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert.“ so Antje Schrupp 

Auch damit hat sie Recht. Wir sollten anerkennen, wo wir heute stehen: Wir haben in den letzten 50 Jahren wirklich viel erreicht: Tatsächlich sind wir ja in einer ganz anderen Welt groß geworden, als noch unsere Mütter und Großmütter. Für mich war es selbstverständlich, dass ich einen Beruf wählen kann, der mir Spaß macht. Es war keine Frage, dass ich mich entscheiden kann, ob und vor allem wen ich heiraten möchte oder, ob ich Kinder haben möchte.(http://www.antjeschrupp.de/weibliche-autoritaet)

Wenn wir es wollen, wird die Kraft weiblicher Solidarität die Welt verändern

Ich wünsche mir, dass wir mit unserer großen Liebe zur Freiheit und der geballten Macht weiblicher Solidarität diesen Diamanten schleifen und polieren, damit er noch schöner funkelt und strahlt.
Dass wir endlich ganz unseren Platz einnehmen in dieser Welt.
Und all dies nicht nur zu unserem eigenen Wohl und zum Wohle aller Frauen – Echte Solidarität unter Frauen ist unser Geschenk an die Welt:
Wenn wir uns entscheiden für die radikale Akzeptanz von Vielfalt
und alle Fesseln alter Muster und Rollenbilder gesprengt werden…
Wenn wir selbst es sind, die frei entscheiden, was wir tun…
Wenn wir alle alles sind, alles dürfen, alles tun, was uns wahrhaftig entspricht…
Wenn wir also verbunden sind mit unserer ureigenen Kraft und unserem höchsten Potenzial…
…dann werden wir diese Welt wahrhaftig als unsere Welt empfinden.
…dann werden wir sie gestalten und zu einem Ort machen, das sie unserem Innersten entspricht.

Und dann wird die Kraft weiblicher Solidarität die Welt verändern.

Schwesterliche Grüße,
Julia

Dieser Text entstand ursprünglich als Abschlussvortrag im Rahmen einer Speakerausbildung bei Jenny Ulbricht.